Sollte am diesem Sonntag el bicho („der Käfer“) die Tabellenführung verteidigen und die erst zweite nationale Meisterschaft in der Vereinsgeschichte erringen, wird das Team sicherlich mit für Argentinien unüblich vielen Sympathiebekundungen von Fans anderer Klubs überhäuft werden. Denn irgendwie sind diese Juniors, die den Namen des gesamten stolzen Volkes vom Río de la Plata tragen, vielleicht auch das geliebte Fußballbaby des ganzen Landes…
Gegründet 1904 in einer anarchistischen Bibliothek unter dem Namen Märtyrer von Chicago (in Gedenken an den Arbeiteraufstand von 1. Mai), wurde das Team aus dem Stadtviertel La Paternal wenig später in seinen bis heute gültigen Namen umbenannt. Die Heimat des Teams mit den roten Trikots ist eines dieser typischen Stadtviertel der argentinischen Hauptstadt, in denen an manchen Ecken die Uhren sich scheinbar nicht weiterdrehen. Kaum touristisch wie Palermo oder San Telmo, nicht so elitär wie Belgrano oder Nuñez, aber auch kein sozialer Brennpunkt wie weite Teile der Zona Sur, ist La Paternal ein in weiten Teilen verträumtes Wohnviertel im Herzen von Buenos Aires, in dem an Sonntagen vorzüglicher Duft von argentinischen Grillfleisch und rauschende Stimmen der lokalen Radiosender die Sinne auf den Straßen erfüllen. Man trinkt Mate, repariert Autos und fiebert mit den Spielen des hier hemischen Vereins: Argentinos Juniors.
Hervorrangende Jugendarbeit zeichnet den Klub aus
Dessen Stadion befindet sich aber eigentlich im benachbarten Viertel Villa General Mitre, wo es eingepfercht in den quadratischen Stadtplan aus Platzgründen sogar auf eine Hintertortribüne verzichten muss. Der Name wurde vor ein paar Jahren dem größten Fußballer aller Zeiten gewidmet: Mit der Benennung Estadio Diego Armando Maradona versuchte der Klub vielleicht sich einen Teil der Anerkennung für die Ausbildungen des Pibe de Oro zurückzuholen, welche die die teils ignorante Weltöffentlichkeit viel zu häufig den Boca Juniors zuschreibt.
Er ist aber nur die Speerspitze zahlreicher Topspieler, aus der zu Recht häufig als beste Jugendabteilung des Landes betitelten Cantera der Argentinos. Redondo, Sorín, Riquelme und Cambiasso sind nur einige der Stars die in jungen Jahren in La Paternal aufliefen. Blickt man ein paar Jahrzehnte zurück, erlebte Argentinos Anfang der 80er mit einem Gros selbstausgebildeter Spieler die glorreichste Zeit der Vereinsgeschichte. Erreichte man mit Diego 1980 nur den zweiten Platz, konnte nach dessen Abgang 1984 (Metropolitana) und 1985 (Nacional) die Meisterschaft gewonnen werden. Im selben Jahr gewann man sogar die Copa Libertadores gegen América de Calí und durfte sich ebenso der Weltbühne gegen Platinis Juventus präsentieren, wobei dieses Finale der Interkontinental Pokals allerdings verloren ging.
Schlüsselspieler der damaligen Mannschaft waren neben anderen der heutige U20-Nationalmannschaft Sergio Batista und Stürmer Claudio Borghi. El bichi Borghi ist dieser Tage als Trainer für die starke Saison des Außenseiterteams verantwortlich.
Ex-Spieler Cladio Borghi heute der Trainer der Überraschungsmannschaft
Claudio Borghi, der auch 1986 zum Weltmeisterkader von Argentinien gehörte, tingelte nach 6 Jahren bei seinen Argentinos Juniors noch über ein Jahrzehnt durch die Fußballweltgeschichte, bevor er 1999 in Chile die Stiefel an den Nagel hing. Der herzlich wirkende Borghi ließ sich westlich der Anden nieder und trainierte zunächst Audax Italiano und danach äußert erfolgreich Chiles Rekordmeister Colo Colo, den er zwischen 2006 und 2007 viermal in Folge zur Landesmeisterschaft führte und ebenso das Finale der Copa Sudamericana erreichte.
Nach seinem Abschied nahm er ein Angebot von Independiente in seiner Heimat an, lies aber seine Familie und viele Freunde in Chile, so dass sich sein Engagement schnell zu einem kritisierten Pendlerjob entwickelte. Als bei der unüberlegt zusammengestellten Mannschaft dann auch die Erfolge ausblieben, wurde Borghi beim Team aus Avellaneda wieder entlassen.
Als alle mit seiner Rückkehr nach Chile rechneten sagte dieser überraschend Argentinos Juniors zu – und nahm auch noch den bei Independiente enttäuschenden, ja eigentlich katastrophal spielenden Stürmer Ismael Sosa mit.
Im Sturm reift der junge Flegel Sosa an der Seite des legendären Caldera
Ebenjener 23jährige Sosa fiel endlich bei Argentinos nicht durch dumme Schwalben oder schlechte Ballkontrolle auf, sondern durch Schnelligkeit und seinen Torriecher. In diesem Torneo Clausura erzielte er bisher in 17 Spielen 9 Tore und bereitete weitere 6 vor, was ihn zum Topscore der Liga macht. An seiner Seite stürmt eine lebende Legende der jüngeren argentinischen Fußballgeschichte: Obwohl der fast 40jährige José Luís Calderón bereits 1995 einmal Torschützenkönig der Liga war, scheint er erst in den letzten Jahren seiner über 20jährigen Karriere die wahren Lorbeeren für seine Tore einzusammeln. 2006 gewann er mit Estudiantes die Apertura-Meisterschaft, 2007 mit Arsenal de Sarandí die Copa Sudamericana und 2009 erneut mit Estudiantes sogar den begehrten Libertadores-Pokal. Estudiantes verkannte die Glückssträhne des Fußballrentners und schob ihn in die offenen Arme von Claudio Borghi ab, in dessen offensiver Taktik Calderón den Fels in der Brandung gibt.
Juán Mercier sogar im erweiterten WM-Kader von Maradona
Im Mittelfeld ziehen Juan Ignacio Mercier und Nestor Ortigoza die Fäden. Die beiden bilden seit drei Jahren ein Tagteam bei Argentinos Juniors, dass auch neben dem Fußballplatz unzertrennlich ist. Während sich Ortigoza als einer von bis zu fünf in Argentinien geborenen Spielern berechtigte Hoffnungen auf einen Platz im 23-Mann WM-Kader von Paraguay macht, ist der 30jährige Mercier, der erst vor drei Jahren in der ersten argentinischen Liga debüttierte, höchstwahrscheinlich einer der Streichkandidaten vom Coach der Selección Diego Maradona, wenngleich seine Nominierung auch eine Auszeichnung für die starken Leistungen im Trikot der Argentinos Juniors ist.
Allesamt loben sie den guten Mannschaftsgeist, der mit der Verpflichtung von Claudio Borghi in La Paternal Einzug erhielt. Viele Fans des argentinischen Fußballs erinnert die Ausgangslage vor diesem letzten Spieltag an das Drama um den ebenfalls damals allseits beliebten C.A. Huracán vor einem Jahr. Auch damals stand ein stark in seinem Stadtviertel verwurzelter Traditionsverein kurz vor dem ersten Titelgewinn seit Jahrzehnten. Zwar war Huracáns damalige Trainer Ángel Cappa weitaus philosophischer veranlagt als der populäre Borghi, aber beide sind sie Anhänger des kombinationsreichen Offensivfußball. Wenngleich Huracán spektakulärer spielte, so wäre es Argentinos ähnlich zu gönnen, sich gegen die erfolgsverwöhnten Estudiantes durchzusetzen. Der Käfer aus La Paternal muss auswärts gegen ebendiesen C.A. Huracán antreten und schreibt vielleicht dessen Underdog-Geschichte erfolgreich zu Ende.
Viktor Coco
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