Derbysieg in Avellaneda: Wenn man vor lauter Grinsen nicht schlafen kann

Aus der Sicht von Independiente ist der gestrige 2:0 Sieg im Clásico de Avellaneda gegen den Erzrivalen Racing eigentlich in zwei Worten greifbar: Partido perfecto – perfektes Spiel. Intensiver sind allerdings Eindrücke, von jemandem der live dabei war. Ein -längerer- Erlebnisbericht von Viktor Coco.

Eine meine Mitbewohnerinnen, Wakio, stammt aus Guyana, ist in Kenia aufgewachsen und hat in Washington DC Internationales Recht studiert. No entiendo -(„Ich verstehe es nicht“) raunte sie mir gestern Abend frei von jeglichen Ressentiments immer wieder zu. Klar, schwer zu verstehen, wenn ein erwachsener Mensch den ganzen Abend total heiser singend durch die Bude hüpft. Aber vielleicht doch nicht so schwer, für jemanden, der Fußball fühlt. Aber wie kam es dazu?

Katastrophale Ausgangslage – ungebremste Begeisterung

Die Ausgangslage konnte schlimmer nicht sein. Independiente auf einem Abstiegsrang, sportlich, institutionell und dabei vor allem finanziell in der größten Krise der Vereinsgeschichte. Der Nachbar Racing, zwar historisch in allen Kategorien im Hintertreffen, blüht derzeit auf. Ein Präsident von der Stehplatztribüne, eine finanzstarke Investorengruppe, ein junger moderner Trainer und diverse Talente im Kader der ersten Mannschaft ließen zuletzt die Ambitionen aller Anhänger der Academia anwachsen. Meisterschaft und gleichzeitiger Abstieg des Lokalrivalen? Genau diesen Jackpot, den Independiente 1983 feierte, wünscht sich derzeit jeder Racing-Fan.

Zuerst braucht man ein Ticket

In den Tagen vor dem Derby steigt die Anspannung. Independiente hat deutlich mehr Mitglieder als Plätze auf der Stehplatztribüne, so dass sich jeder der dabei sein will, mit seinem Vereinsausweis am Donnerstag kostenlos ein Ticket abholen muss. Beto, Choleriker und derzeit mit Beinbruch, meldet sich am Mittwoch bei mir. „Viktor, ich kann kaum laufen, mein Bein ist noch im Gips, aber ich muss zu diesem Spiel. Ich hol dich morgen früh ab. Um 10Uhr öffnen die Ticketschalter, um 8Uhr bin ich bei dir.“ Um ACHT??? Selten in den letzten Jahren war ich um diese Zeit wach, aber um bei diesem Spiel dabei zu sein, stehe ich auch mal früh auf. Der Mittwoch vergeht, einer dieser scheinbar unendlichen Sommerregen geht über Buenos Aires nieder und Beto meldet sich wieder: „Es tut mir furchtbar Leid, durch den Wetterumschwung ist mein Bein angeschwollen. Ich kann nichts riskieren, denn wenn mir etwas passiert, kann ich nicht arbeiten und meine Familie hat dann nichts zu essen. Ich würde alles geben, um beim Spiel dabei zu sein, aber ich schaffe es nicht.“
Puuh, harte Worte, die mir aber dennoch etwas mehr Schlaf in den Morgenstunden zusichern. Am Donnerstag um kurz nach neun verlasse ich das Haus Richtung Avellaneda. Warum die Stehplatztickets für die Mitglieder zwecks Entzerrung des Menschenstaus nicht auch an der anderen Geschäftsstelle im Stadtviertel Flores ausgegeben werden, weiß keiner und hinterfragt auch keiner.
Um 10h bin ich am Stadion. Sicherlich nicht als erster, aber dennoch einigermaßen pünktlich. Beide Gedanken sind richtig. Nur leider sind etwa 10.000 Fans vor mir da, einige von ihnen seit 2Uhr nachts. Die Schlange geht ziemlich genau einmal rund ums Stadion. Eine ältere Dame verkauft aus dem Einkaufswagen heraus Softdrinks und auch der Choripan-Stand wird aufgebaut. Das wird wohl länger, denke ich mir zerknirscht und stelle mich an diesen Zigtausendfüßler an, der leider Gottes trotz des grundsätzlich guten Benehmens der Argentinier was Warteschlangen angeht, auch in der Breite wächst und phasenweise für eine knapp eine Stunde stockt. Ob das was wird?

Warteschlange bei der Ticketausgabe Quelle:Clarin.com.ar

Warteschlange bei der Ticketausgabe Quelle:Clarin.com.ar

Lustlos und wortkarg führe ich einige Gespräche und versuche ansonsten Energie im Winterschlafmodus einer Schildkröte zu schonen. Die Sonne brennt mehr und mehr, ich bin miserabel vorbereitet und muss mich mit einem Fläschchen Wasser begnügen. Nur noch Atmen und nicht auf die Uhr schauen. Um 17 Uhr bin ich endlich dran. Es sind genau sechs Ticketschalter geöffnet, man notiert meine Mitgliedsnummer auf der Rückseite des bonos, und markiert die monatliche Beitragsquittung mit Textmarker. Kontrolliert sowieso kein Mensch am Stadion, aber egal. Dass ich noch eine Karte abbekomme, hatte ich nämlich phasenweise stark bezweifelt.

Dann ist plötzlich vor dem Spiel. Gut, es sind noch drei Tage, aber es fühlt sich bereits nach Sonntag an. Zu viele Zigaretten, der Wetterumschwung oder wohl vor allem die extremen Bedingungen der Warteschlange haben mir körperlich zugesetzt. Dicke Mandeln sind das Resultat und gleichzeitig eine perfekte Ausrede, Freitag und Samstag den Aktionsradius zu reduzieren. Für Parties und soziale Kontakte ist kein Kopf da, schließlich spielt Independiente am Sonntag gegen Racing.

Der heilige Sonntag – nervös, aufgeregt, durchgeplant

Frühstück mit der WG und die letzte Halsbehandlung mit Zaubertropfen von Wakio. Aber eigentlich passen die roten Mandeln ganz gut. Denn Rot ist die Farbe des Tages. Bayern-Trikot und die rote Mütze, die mir vor knapp einem Jahr ein Barra Brava von América in Cali geschenkt hatte, dekorieren mich. Ticket, Mitgliedsausweis, SUBE-Buskarte und 50 Pesos sollen mich begleiten. Ich denke sogar daran, meinen Ledergürtel nicht mitzunehmen und binde mir stattdessen einen Schnürsenkel um den Hosenbund. Alter, bin ich gut vorbereitet.

Früh will ich da sein. Denn leider habe ich nur noch eine Karte für die Tribüne popular Sur bekommen. Diese liegt unter dem Gästeblock der Racingfans und  aus Sicherheitsgründen, um nicht von einem Motorroller (o.ä.) getroffen zu werden, will ich aufs obere Drittel in den überdachten Bereich. Der Bus zum Bahnhof Constitución kommt überrachend schnell, der Zug nach Avellaneda, den wie immer am Wochenende niemand zahlt, fährt auch gleich los. Drinnen verzeinzelt Independiente-Fans. Ein kleiner Junge, vielleicht 10 Jahre alt, der bettelnd oder irgendeine Kleinigkeit verkaufend an mir vorbei stolpert, murmelt mir zu: „Heute schlagen wir die von Racing zusammen!“ Das war zwar nicht mein Plan, aber ich freue mich, dass er scheinbar auch ein Roter ist und auch mich als solchen wahrnimmt.

Nahrung werde ich in den nächsten sieben Stunden nicht zu mir nehmen können, also entscheide ich mich widerwillig für ein fettiges und knorpeliges Choripan, die argentinische Stadionwurst. Am Einlass ist es noch überraschend ruhig, zweimal werde ich von der Polizei eher gestreichelt als denn ernsthaft abgetastet. Dennoch legen die Beamten großen Wert darauf, dass die vor dem Stadion verteilten DIN-A3 Zettel mit einer wenig freundlichen Botschaft an die Racing-Fans nicht mit ins Stadion kommen. Da sitze ich nun also, zwei Stunden vor Anpfiff auf der Tribüne. Hinter mir tropft unermüdlich ein Abwasserrohr vom Oberrang und kühlt mir den Rücken. Vor mir brennt die Sonne. Schildkrötenmodus.

Bombenstimmung lange vor dem Anpfiff

Ab und zu stehe ich auf, denn nicht mitsingen, geht manchmal gar nicht. Belustig verfolge ich, wie ein Spruchband aufgespannt wird, auf dem – mit einem Pfeil nach oben – an Racings eigene Vergangenheit in der zweiten Liga erinnert wird. Allerdings mit einem Rechtschreibfehler, so dass ich mich dann frage, wie niedrig die Bildung oder die Konzentration sein muss, um bei einem 40 Quadratmeter Spruchband sich zu verschreiben.

Naja, der Anpfiff nähert sich. Weder sehe noch höre ich irgendetwas von den Racing-Fans. Gleichzeitig bemerke ich aber, dass auf dieser zweiten Stehplatztribüne einerseits die Koordination mit der anderen Popular gegenüber, andererseits phasenweise auch die Singbereitschaft Mängel aufweist. Egal, beim Einlaufen, weiß jeder, was man zu singen hat. Aus meiner Perspektive sah das ungefähr so aus:

Kurz darauf: Erleichterung. Die brennende Sonne verschwindet für ein paar Sekunden. Die Freude über den Schatten und die des Pyromanen in mir wird nur bedingt durch Atemprobleme beeinträchtigt.

Unglaublich: Independiente glänzt durch guten Fußball

Der Spielverlauf? wird zur Genüge in Videos und anderen Medien deutlich. Independiente dominiert vom Anpfiff weg. Das frühe Tor (ob nun Foul oder nicht im Vorfeld durch Fredes) ist ein Geschenk des Teufels an seine diabolischen Anhänger. Der Torschütze Miranda, kommt aus einer Villa in Avellaneda, spielt seit seiner Kindheit bei Independiente und trifft erstmals in der Primera División. Solche Geschichten kann nur ein Derby schreiben.

In der Halbzeit komme ich mit zwei jungen Brüdern ins Gespräch. Der ältere von ihnen wirkt auf den ersten Blick wie so viele Argentinier der Mittelschicht wie ein sympathischer Proll. Aber eloquent berichtet er mir über sein Soziologiestudium und es besteht Konsens darüber, dass man den derzeit äußerst glücklosen Mittelstürmer Farias nicht beschimpfen sollte.

In der zweiten Spielhäfte spielt Independiente Fußball! Ballstaffetten werden vom typischen Oleeee von der Tribüne begleitet. Der Kolumbianer Fabian Vargas, erneut mit einer bärenstarken Leistung im Mittelfeld der Roten, tunnelt den heute miserablen hoffnungstragenden Neuzugang von Racing Bolatti. Auch Hernan Fredes, der ein besserer Futsal-Spieler als Großfeldprofi geworden wäre, zieht seinem Gegenspieler die Mütze über die Ohren. Der Sombrero, ein Trick der in Deutschland dermaßen verkannt wird, dass er nicht einmal einen Namen trägt (@8:38).

Der andere Kolumbianer, Neuzugang Juán Caicedo, wird erneut bereits bei seiner Einwechslung mit euphorischen „dale negro!“ –Rufen wie ein Messias gefeiert, obwohl er bisher kaum 60 Minuten für Independiente auf dem Platz stand. Einerseits die Verzweiflung der Transferperiode, andererseits sicherlich auch eine gehörige Portion positiver Rassismus. Aber was soll’s, der Typ ist einfach sympathisch.

Der Treffer wenige Sekunden vor dem Abpfiff ist die Sahnehaube auf ein ideales Spiel, hier aus der seltenen Perspektive direkt vom Spielfeldrand.

Unendliche Genugtuung nach dem Spiel

Die Minuten nach dem Abpfiff sind ein Delirium. Man weiß gar nicht was man alles singen soll, so gutgelaunt sind 40.000 Anhänger von Independiente. Knapp eine Stunde warten wir, bis die Tore geöffnet werden. Die Gesänge werden seltener, die gute Laune verläuft sich in Spielanalysen. „Partido perfecto“, werfe ich diversen Menschen, denen ich zuvor beim Torjubel in den Armen lag, als Gesprächseinstieg zu.

Im Zug ergattere ich einen Sitzplatz neben einem Typ im Independiente-Trikot mit Pommes-Matte im Genick. Busfahrer-Frisur sagt man hier. Ob seine Augen vor Freude oder Koks strahlen, ist mir dabei egal. „Du bist glücklich, oder?“, fragt er mich. „Na klar, Mann! Perfektes Spiel“, antworte ich bevor ich auch mit ihm die hier bereits abgehandelten Ereignisse durchgehe. Seit fünfzehn Jahren konnte er nicht zum Derby gehen, deshalb habe er es besonders genossen, berichtet er. Als sei er Funktionär auf der Pressekonferenz beendet er das Gespräch mit gespielter Sachlichkeit: „Wir müssen den Sieg abhaken. Jetzt volle Konzentration auf’s Spiel gegen Arsenal nächste Woche.“

Konzentration? Bin ich am Sonntagabend weit entfernt von. Wieder zuhause das Nachspiel im Internet: Videos, Artikel, Diskussionen auf Facebook mit Racing-Fans. Und Wakio, die mich nicht versteht. Irgendwann purzel ich totmüde ins Bett. Da liege ich nun, unglaublich glücklich und kann eine gefühlte Ewigkeit nicht schlafen. Weil das Grinsen über diesen Derbysieg einfach nicht verschwinden will.

5 Antworten zu “Derbysieg in Avellaneda: Wenn man vor lauter Grinsen nicht schlafen kann

  1. sensationeller Bericht, da kommt die Sehnsucht wieder hoch !
    Am Wochenende SanLorenzo – Rixxr und ich kann nicht dabei sein 😦 sitze im kalten Deutschland !

  2. Das klingt fantastisch, im Juni geht es für mich zum ersten Mal nach BA für einen Monat, die Vorfreude wächst mit jedem solcher Berichte. 🙂

  3. Super Bericht, Danke. Auch wenn Racing verloren hat, :-(.

  4. Pingback: Der Derbyheld und die drei Frauen | Argentinischer Fußball auf Deutsch

  5. Kjartan Pittúr Truffelsson in juni kommst du her o ist kalt hier…………jajaja
    ok wenn hilfe für was brauchst sag bescheid tickst oder so
    boca sieggggggggggggggg vs barcelona 2:1

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